Interview mit dem Fraktionsvorsitzenden für das Jahrbuch Ruhr 2015 "Positionen und Perspektiven"

Die Fraktionen aus der Verbandsversammlung nehmen Stellung zur Verkehrssituation im Ruhrgebiet

1. Wie schätzen Sie insgesamt die Verkehrslage im Ruhrgebiet im Vergleich zu anderen Ballungsgebieten ein?

Nach einer schon älteren Studie der wmr GmbH ist das Ruhrgebiet bei Straßen und Binnenschifffahrtsrouten gut aufgestellt. Erhebliche Defizite hat es aber beim Öffentlichen Nahverkehr. Das wird durch weitere Studien aus den letzten Jahren untermauert. Der Öffentliche Nahverkehr „pulsiert“ im Ruhrgebiet noch nicht einmal auf der zentralen S-Bahn-Strecke Dortmund-Duisburg-Düsseldorf, die Taktzeiten sind zu weit auseinander, in Nord-Süd-Richtung und in den eher ländlichen Regionen gibt es zu wenige Verbindungen. Nachts ist der ÖPNV auch in den Großstädten nur schwer nutzbar.

Aus diesen Gründen spielt das Auto auch bei den Verkehren im Nahbereich – und das sind 80 % der Mobilität in der Region – eine zu große Rolle. Aus unserer Sicht muss ein Schwerpunkt der Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs sein und die Entwicklung eines integrierten Mobilitätskonzeptes, in der sich vor allem Bus, Bahn, Rad- und Fußverkehr ergänzen.

Mit dem Ausbau neuer Transitautobahnen durch das Ruhrgebiet wie der A 52 lassen sich die Verkehrsprobleme nicht lösen.

2. Was unterscheidet das Ruhrgebiet von anderen Ballungsgebieten – und inwiefern erfordert dies eine besondere Herangehensweise?

Das Ruhrgebiet ist nur schwer mit anderen Regionen vergleichbar, weil es eine polyzentrische Siedlungs- und Verwaltungsstruktur aufweist. Es gibt kein Zentrum, um das sich alles dreht, wie London oder Paris, sondern elf kreisfreie Städte und vier selbständige Landkreise. Entsprechend gibt es auch nicht ein Verkehrsunternehmen, das die Verkehrsplanung in der Hand hat, sondern 27 Verkehrsgesellschaften, die zwar im Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) über das Ruhrgebiet hinaus zusammengeschlossen sind, ansonsten aber auch immer wieder durch gepflegtes Kirchturmdenken auffallen.

Wir halten diese Situation auf Dauer für nicht tragbar. Gerade Verbindungen zwischen den Städten und Kreisen, die die Randbereiche verbinden, fehlen oft. Die Kooperation, die es teilweise zwischen den Verkehrsgesellschaften gibt, muss zu einer deutlichen Reduzierung der Verkehrsgesellschaften weiterentwickelt werden.

Eine wichtige Rolle kann vorher schon die Regionalplanung spielen, die seit 2009 wieder in der Verantwortung des RVR liegt. Der letzte flächendeckende Regionalplan, der die planerische Entwicklung festlegt, verlor 1966 seine Gültigkeit. Seit der Zeit fehlt es an planerischen Visionen aus einem Guss für den regionalen Verkehr. Das kann sich mit dem neuen Regionalplan ändern.

 3. In welchen Bereichen ist das Ruhrgebiet gut aufgestellt?

Das Ruhrgebiet ist eine der zentralsten und am besten erreichbaren Ballungsregionen in Europa, sowohl auf der Straße als auch auf Schienen. Gleichzeitig ist es ein wichtiger Güterumschlagplatz mit dem Duisburger Hafen, dem größten Binnenhafen der Welt und ein guter Sitz für Logistikunternehmen. Hier hat das Ruhrgebiet Stärken, die weiter ausgebaut werden müssen.

Auch in der verkehrlichen Grundausstattung, der Netzdichte an Straßen, Schienen, Wasserstraßen, Fußwegen ist das Ruhrgebiet gut aufgestellt. Uns ist wichtig, dass gerade in den letzten Jahren auch der Ausbau der städtischen und regionalen Radwegenetze Fahrt aufgenommen hat, woran der RVR einen guten Anteil hat. Diese sinnvoll miteinander zu verknüpfen, Lückenschlüsse über Investitionen zu ermöglichen, wird eine der zukünftigen Aufgaben sein, um einen Umstieg vom Auto auf das Rad auch im Alltag zu fördern.

4. In welchen Bereichen hat das Ruhrgebiet die größten Defizite?

Den Öffentlichen Nahverkehr habe ich schon erwähnt. Darüber hinaus gibt es große Defizite im Denken über die Stadt- und Kreisgrenzen hinaus und bei der Entwicklung eines regionalen Verkehrskonzeptes, das eine sinnvolle und zeitsparende Verknüpfung unterschiedlicher Verkehrsträger ermöglicht. Wie wäre es, wenn das unter dem Dach des RVR, in Kooperation mit dem VRR und den Städten und Kreisen, in Angriff genommen würde?

Die Ruhrgebietsstädte haben wie viele andere Anfang der 60er Jahre das Leitbild der „autogerechten Stadt“ verfolgt. Der mangelnde Ausbau des ÖPNV ist auch darin begründet. Gerade weil das Auto bei den jüngeren Generationen an Bedeutung verliert, ist die Zeit günstig, endlich umzusteuern.

Auch der erfolgreiche Bürgerentscheid gegen den Bau der A 52 durch Gladbeck zeigt, dass ein Umdenken längst im Gange ist.

5. Welche Investitionen wären dringend notwendig?

Die wichtigste Investition ist vielleicht der RRX, der eine leistungsfähige Ost-West-Verbindung im Personennahverkehr quer durch das Ruhrgebiet sicherstellen soll. Er darf nicht länger im Planungs- und Finanzierungsstau verharren. Ein weiteres wichtiges Projekt ist die Fertigstellung der Betuwe-Linie, die die Einbindung des Ruhrgebietes in das europäische Güterfernverkehrsnetz sicherstellen würde. Wir halten die vorgesehene Streckenführung mitten durch verschiedene Städte in den Kreisen Kleve und Wesel sowie in Oberhausen allerdings nach wie vor für problematisch.

Schließlich sind in den nächsten Jahren große Investitionen in den Erhalt der Straßen, Brücken, der U-Bahn-Infrastruktur und der Straßenbahnen nötig. Allein Essen braucht im Öffentlichen Nahverkehr in den nächsten Jahren 500 Mio. Euro, um den jetzigen Standard zu erhalten.

Die voraussichtlich 184 Mio. Euro für den Radschnellweg Ruhr von Duisburg nach Hamm sind demgegenüber eine eher bescheidene Summe. Wir würden dadurch aber eine 100 km lange, sichere und alltagstaugliche Radverbindung erhalten, die gleichzeitig ein tolles Pilotprojekt wäre.

6. Wo besteht die Möglichkeit zu sparen?

Die Vereinheitlichung der Systeme von Bussen, Straßenbahn und U-Bahn einhergehend mit einer Auflösung der Vielzahl der städtischen Verkehrsgesellschaften könnte nicht nur Spareffekte bringen, sondern auch eine Verbesserung der Kundenfreundlichkeit und des Netzes sowie eine Senkung der Ticketpreise. 27 Nahverkehrsgesellschaften heißt auch 27 Geschäftsführungen und Aufsichtsräte.

Würden die verschiedenen Verkehrsformen besser aufeinander abgestimmt und der ÖPNV, der Rad- und Fußverkehr besser nutzbar, ließen sich nicht nur Stau-Kilometer sparen, sondern auch Emissionen, während es einen Zugewinn an Zeit und Luftqualität gäbe.

Ein Umsteuern bei den Verkehrsformen weg vom motorisierten Individualverkehr setzt aber auch ein Umsteuern der Fördermittel vom Land und vor allem vom Bund voraus. Darüber hinaus müssen neue Formen der Finanzierung des ÖPNV entwickelt werden, wie der ticketlose, umlagefinanzierte Nahverkehr.

7. Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Wie würde der Verkehr im Ruhrgebiet 2030 aussehen, wenn Ihre Konzepte ohne Einschränkungen verwirklicht werden würden?

Egal, wie ich selbst unterwegs sein möchte, kann ich aus einem Mix von Verkehrsträgern frei wählen. Ohne Ticket und ohne Auto komme ich innerhalb des Ruhrgebietes von Nord nach Süd und Ost nach West, ohne Tagesreisen auf mich zu nehmen. Die eine Verkehrsgesellschaft fürs Ruhrgebiet schafft es, dass ich nach einem Theaterbesuch auch nach 23.00 Uhr noch mit Bahn oder Bus auf den gewohnten Strecken nach Hause komme. An den Bahnhöfen und wichtigen ÖPNV-Haltestellen kann ich aufs Rad oder das von der Verkehrsgesellschaft betriebene Car-Sharing-Auto umsteigen.

Güterverkehre und Personenverkehre fahren nicht mehr in einer Konkurrenzsituation. Gleichzeitig gibt es in den Großstädten Warenverteilzentren, die den Güterverkehr zu Läden und Geschäften einschränken.

Luftverschmutzungen und Lärmbelastungen haben stark abgenommen. In wissenschaftlichen Studien zur Gesundheitsgefährdung an Autobahnen und stark befahrenen Schienenwegen kann man die Erfolge für die Gesundheit des Einzelnen ablesen.