Awareness-Konzept für DIE LINKE. NRW

Beschluss des Landesvorstands am 20.5.2023

Der Landesvorstand beschließt das nachstehende Awareness-Konzept für die kommenden großen Veranstaltungen der Landespartei. Auf Grundlage dieser Vorlage wird in Zusammenarbeit mit den Kreisverbänden ein für den Landesverband NRW allgemein gültiges vorgelegt.

 

Als Linke kämpfen wir für eine Welt ohne jegliche Unterdrückung. Wir sind eine feministische Partei, engagieren uns gegen Rassismus, Antisemitismus und für Queere Rechte. Wir stellen uns gegen jede Art von Sexismus, Homophobie, Ableismus, Trans- und Queerfeindlichkeit und alle anderen Formen der Diskriminierung, Gewalt oder Mobbing. Oft verdrängen wir aber, dass unsere Partei auch nur ein Teil unserer Gesellschaft ist und strukturelle Probleme sich mit dem Engagement in der LINKEN nicht auflösen.

Es ist von Bedeutung, sich bewusst zu sein, dass auch unsere Partei kein befreiter Raum von Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten ist. Die Gleichberechtigung aller, die wir uns in der Welt wünschen und für die wir uns einsetzen muss also gleichzeitig auch in unserer Partei gelebt und verwirklicht werden. Uns ist wichtig, dass stets gewährleistet wird, dass sich alle sicher fühlen können, wenn es darum geht sich bei uns einzubringen und seinen*ihren Beitrag zu leisten, ohne dafür diskriminiert, ausgegrenzt oder verurteilt zu werden. Dazu bedarf es eines rücksichtsvollen Handlungsbewusstseins und kritischer Selbstreflektion.

Der Begriff „Awareness“ (engl. Bewusstheit) bezeichnet die (Selbst-)Reflektion einer Person oder Gruppe über ihre Umgebung, ihre Rolle darin sowie die sich daraus ergebenden gebotenen Handlungen. Awareness ist eine Möglichkeit, auf Diskriminierung und Herrschaftsverhältnisse aufmerksam zu machen und Menschen, die Grenzüberschreitungen erlebt haben, in ihrem Umgang damit zu unterstützen. 

Wir wollen Gewalt und Diskriminierung nicht als individuelle Probleme verstehen und Awareness ist für uns ein Versuch, Diskriminierung und Gewalt in konkreten Räumen und Situationen einen gemeinschaftlichen Umgang entgegenzusetzen. Gewalt liegt unserem Verständnis nach dann vor, wenn über Handlungen oder Strukturen machtvoll und ohne Einverständnis Einfluss auf andere ausgeübt wird und dies zu Schädigungen und/oder Benachteiligungen führt. Gewalt kann damit von konkreten Personen ausgehen (individuelle Gewalt), aber Gewalt gibt es auch ganz ohne, dass sie von konkreten Menschen ausgeübt wird, z.B. dann, wenn Räume oder Strukturen so aussehen, dass sie manchen Menschen die Teilnahme oder den Zugang zu Ressourcen schwerer machen als anderen (strukturelle Gewalt). Gewalt kann sich gegen konkrete Personen richten oder gegen Menschengruppen. Sie kann außerdem verschiedene Formen annehmen: sexualisierte Gewalt (z.B. Grabschen, Vergewaltigung, verbale Anzüglichkeiten), psychische Gewalt (z.B. Manipulation, Stalking), verbale Gewalt (z.B. Beschimpfen, Beleidigen), körperliche Gewalt (z.B. Schlagen, Festhalten), … Sie kann einmalig auftreten oder im Rahmen länger andauernder Gewaltverhältnisse. Sie kann zwischen Menschen stattfinden, die sich noch nicht kennen oder auch, wenn sie in einem näheren oder nahen Verhältnis zueinanderstehen (z.B. Beziehungsgewalt).

Wir sehen Gewalt außerdem als Teil gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse (z.B. Sexismus oder Rassismus), durch die Menschen als ungleichwertig konstruierten Gruppen zugeordnet werden. Diese Zuteilung ist an sich häufig schon gewaltvoll, da sie zwangsweise passiert, und geht – je nach Zuordnung zu der mächtigeren und als ‚höherwertig‘ geltenden oder zu der weniger mächtigen und als ‚minderwertig‘ geltenden Gruppe – mit Privilegien oder Benachteiligungen und Diskriminierungen einher, die uns nicht immer alle bewusst sein müssen und können. So ist jeder Mensch unvermeidlich in diese Verhältnisse verstrickt und kann in mancher Hinsicht Privilegien (z.B. als Mann) und gleichzeitig in anderer Hinsicht Diskriminierungen (z.B. als queere Person) erfahren. Das können wir Menschen nicht ansehen und auch nicht immer davon ausgehen, dass die gesellschaftliche Position in einer individuellen, zwischenmenschlichen Gewaltsituation eine bedeutsame Rolle spielt. Uns ist es aber wichtig mitzudenken, dass sich diese gesellschaftlichen Verhältnisse im Privaten widerspiegeln (z.B. als Abhängigkeitsverhältnisse oder unterschiedlich verteilter Macht und Verletzlichkeit) und, dass sie auch die Möglichkeiten, sich bei Gewalterfahrungen Unterstützung zu holen, entscheidend beeinflussen.

Natürlich kann Awareness diese strukturellen Gewaltverhältnisse nicht auflösen.
Die Idee von Awareness ist, dass es Gruppen gibt, die Unterstützung für Betroffene von Diskriminierung und Gewalt anbieten. An einem konkreten Ort und für einen begrenzten Zeitraum. Awareness kann dabei nur eine „Übergangslösung“ sein, die mit den akuten Auswirkungen von Herrschaftsverhältnissen wie zum Beispiel körperlicher/psychischer/sexualisierter/… Gewalt umgeht. Es bedarf darüber hinaus auch emanzipatorischer Kämpfe, die sich für radikale Veränderungen und konsensorientierte zwischenmenschliche Beziehungen einsetzen und auf eine grundlegend andere Gesellschaft abzielen.

Wir verstehen Awareness nicht als eine Form der Mediation zwischen zwei Konfliktparteien. Ein Vorfall soll weder objektiv bewertbar sein müssen, noch soll eine Sanktionierung nach vorgegebenen Regeln erfolgen. Das Konzept ersetzt nicht die Auseinandersetzung mit bestimmten Themen (Formen von Gewalt, Arten von Diskriminierung) und eine gewisse Sensibilität für die Bedürfnisse und Perspektiven anderer Menschen. Es ist ein Anhaltspunkt und soll Sicherheit im Umgang mit Übergriffen und diskriminierenden Vorfällen bieten. Wir wollen keine Stigmatisierung als ewige „Täter*innen“ begünstigen, oder Menschen verurteilen, sondern ihre Handlungen kritisieren. Wir wünschen uns einen konstruktiven Umgang mit Fehlern und Offenheit für Kritik.

Mithilfe des Awareness-Konzepts soll ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie auch wir in unserer Partei Menschen ausgrenzen können – ohne es zu beabsichtigen. Zeitgleich soll es ein Leitfaden für uns sein, um zu lernen, wie wir mit Problemen umgehen und einen gerechten Umgang unter- und miteinander verwirklichen können. Wir betrachten die Awareness-Arbeit mit diesem Konzept nicht als beendet, sondern als fortlaufenden Prozess zu einer guten, rücksichtsvollen und solidarischen Zusammenarbeit in unserer Partei. Für uns gilt dies als verbindliches Konzept für alle Organe der Partei in NRW und soll allen Genoss*innen für ihr Mitwirken und Handeln in der Partei und darüber hinaus an die Hand gegeben werden.

Das Awareness-Konzept stellt einen Leitfaden für unseren Umgang miteinander, sowohl auf Veranstaltungen in der Partei als auch darüber hinaus, dar. So gilt dieser Verhaltenskodex nicht nur in Arbeitsgemeinschaften, auf Sitzungen, Seminaren, Klausurtagungen oder Versammlungen, sondern auch bei Diskussionen und Treffen in unserer Freizeit, bei gemeinsamen Kneipenabenden oder in Chatgruppen. 

Zusätzlich halten wir hier fest, welche Maßnahmen wir ergreifen, um einem Verhalten vorzubeugen, das diesem Konzept widerspricht.

Im Umgang miteinander:

  • möchten wir einen respektvollen und freundlichen Umgang pflegen,
  • achten wir auf eine wohlwollende Atmosphäre
  • lassen wir die andere Person im Ruhe aussprechen
  • sprechen wir miteinander in einem freundlichen und respektvollen Ton
  • vermeiden wir ausschließende Gruppendynamiken und beziehen alle mit ein,
  • respektieren wir individuelle Grenzen und Entscheidungen,
  • unterlassen wir Belästigungen jeglicher Art,
  • und tolerieren keine Formen von körperlichen Übergriffen und Gewalt.

Während unserer Arbeit im Verband nutzen wir verschiedene Mechanismen, um einen achtsamen Umgang miteinander zu fördern und diskriminierendes oder ausschließendes Verhalten zu vermeiden.

Es ist wichtig, dass wir eine gendergerechte Sprache nutzen. Durch sie schließen wir bei Diskussionen alle Menschen mit ein, egal welchem Geschlecht sie angehören. Dies gilt einerseits für die mündliche Kommunikation untereinander, bei der natürlich Fehler unterlaufen können, diese sollten aber nach Möglichkeit vermieden werden. Andererseits verwenden wir auch in schriftlichen Dokumenten ausschließlich die gendergerechte Sprache.

Bei größeren Veranstaltungen sind Gender-Plena ein fester Bestandteil der Tagesordnung. Dabei treffen sich alle Frauen und Männer (ÄA Solid) nach Beginn der Veranstaltung für ca. 30 Minuten in separierten Gruppen, um Grundregeln für das eigene Verhalten auf der jeweiligen Veranstaltung festzulegen und sich über mögliche Konfliktpunkte und Sorgen auszutauschen. Diese Plena dienen der Förderung des Zusammenhaltes sowie einer Schaffung von und Sensibilisierung für Awareness für jedes einzelne Mitglied am Anfang einer Veranstaltung. Um die Geschlechtergerechtigkeit zu wahren quotieren wir auf verschiedenen Ebenen. Erstens führen wir quotierte Redelisten. Hierdurch soll (männlich) dominierendes Redeverhalten vermieden werden. Zweitens achten wir in unseren Teilnehmendenstrukturen auf ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis.

Die Mitglieder und insbesondere Mandats- und Funktionsträger*innen unterstützen das Awareness Team in seiner Arbeit. Zusätzlich wird Bildungsarbeit in Bezug auf Awareness im Verband geleistet. Dies beinhaltet neben den genannten Mechanismen auch die Durchführung von regelmäßigen Seminaren zum Thema und die Integration des Themas in andere Seminare und Veranstaltungen.

Um unserer Vision von Awareness und gelebtem Feminismus im Verband auch entsprechende Taten folgen zu lassen, wird ein Awareness-Team gegründet und eine regelmäßige Evaluation zum Status Quo der Awareness-Arbeit im Verband eingeführt. Im Detail:

Das Selbstverständnis des Awareness-Teams ist, ein notwendiger Baustein der parteiinternen Awareness-Arbeit zu sein und diese gleichzeitig kritisch zu begleiten.

Die wichtigste Aufgabe des Awareness-Teams ist, eine vertrauliche und niedrigschwellige Anlaufstelle zu sein für alle, denen eine Form von Ungleichbehandlung oder Übergriffigkeit (ÄA Solid) in unserer Partei begegnet, ob in einer konkreten Situation oder in unseren Verbandsstrukturen. Dabei muss nicht jede Situation eine „riesige“ Sache sein, um in die Zuständigkeit des Awareness-Teams zu fallen (ÄA Solid). Betroffene sollen die Möglichkeit haben, sich schnell und unkompliziert an dessen Mitglieder zu wenden. Sie hören zu, beraten und können im Konfliktfall unterstützend einschreiten. Gesprächsinhalte mit dem Awareness-Team sind streng vertraulich. Außerdem dürfen seine Mitglieder nur mit dem expliziten Einverständnis des*der Betroffenen über das Gespräch hinaus aktiv werden.

Eine weitere Aufgabe des Awareness-Teams ist, Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zu leisten. Vielen ist gar nicht bewusst, wo Diskriminierung überhaupt anfängt und wie am besten reagiert werden sollte, sobald man Zeug*in oder Opfer von diskriminierendem Verhalten wird. Darüber hinaus hat das Awareness-Team die Aufgabe, die Umsetzung unserer Awareness-Arbeit, insbesondere die des Landesvorstands kritisch zu begleiten. Dazu berichtet es dem Landesvorstand halbjährlich von seiner Arbeit als Anlaufstelle (anonymisiert) und macht auf weiterhin bestehende Missstände aufmerksam. Das Awareness-Team kann dem Landesvorstand auch Vorschläge für eine bessere Awareness-Arbeit machen. Der Landesvorstand ist dazu angehalten, auf diese Berichte und eventuelle Vorschläge mit entsprechenden Maßnahmen zu reagieren und verpflichtet sich, in seinem Rechenschaftsbericht darauf einzugehen.

Das Awareness-Team besteht aus mindestens zwei, maximal drei Awareness-Beauftragten, hat eine einjährige Amtszeit und wird aus Mitgliedern der LINKEN.NRW gebildet. Vom Amt der Awareness-Beauftragten ausgeschlossen sind Funktionsträger*innen. Das Awareness-Team wird vom Landesvorstand berufen. Mit der Berufung beginnt dessen Amtszeit.

Um das Team der Awareness-Beauftragten in seiner Arbeit zu entlasten, können auf Veranstaltungen ad-hoc Awareness-Teams gebildet werden, die dieses unterstützen oder vertreten. Für die Anwesenheit eines Awareness-Teams sind die Organisatoren der Veranstaltung in Absprache mit den gewählten Awareness-Beauftragten verantwortlich. Wird ein solches ad-hoc Team gebildet, berichtet es im Anschluss an die Veranstaltung den Awareness-Beauftragten von eventuellen Vorkommnissen.

Das Awareness-Team ist sichtbar und immer ansprechbar. Auf der Website der Partei DIE LINKE.NRW wird über die Beauftragten und ihre Erreichbarkeit informiert. Hierfür wird eine Email-Adresse eingerichtet. Auf diesen Account haben nur die gewählten Awareness-Beauftragten Zugriff. Zu Beginn einer Veranstaltung wird zusätzlich eine Handynummer zur Verfügung gestellt, unter der das Awareness-Team über den gesamten Zeitraum der Veranstaltung erreichbar ist.